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Sendetag:
19.03.2004,
20.15 Uhr
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Prof. Dr. Manfred Spitzer
Neurobiologe und Psychiater
im Gespräch mit
Ellen Norten
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Zur Person
Funktionen und Ämter
Kontakt
Veröffentlichungen
Norten: | Hallo
und herzlich willkommen beim Alpha-Forum. Unser Studiogast ist heute Professor
Manfred Spitzer. Professor Spitzer ist der Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik
in Ulm. Sie sind nicht nur Psychologe und Mediziner, Sie sind auch Philosoph
und Ihr Hauptinteresse gilt dem Gehirn. Was macht denn für Sie das Gehirn
so interessant? | Spitzer: | Das
Gehirn ist mit Abstand unser spannendstes Organ und auch unser kompliziertestes
Organ. Man sagt ja auch oft, das Gehirn sei das komplizierteste Stück Materie,
das es im Universum überhaupt gibt. | Norten: | Das
Gehirn hat 20 Milliarden Nervenzellen und es wiegt wohl an die 1,4 Kilo im
Durchschnitt. Aber das Gehirn ist natürlich viel, viel mehr als nur diese
Maße und Gewichte. | Spitzer: | Ja,
diese 20 Milliarden Nervenzellen findet man überall in Berichten über das
Gehirn. Nebenbei gesagt sind es bei Männern 23 Milliarden Nervenzellen alleine
im Kortex, also in der Gehirnrinde. Bei Frauen sind es 19 Milliarden Nervenzellen.
Da Frauen freilich genauso intelligent sind wie Männer, rätselt seither die
Wissenschaft, was die Männer mit ihren vier Milliarden Nervenzellen extra
machen. Keiner weiß das bis heute so richtig. Es gibt aber darüber hinaus
noch mehr Zellen im Gehirn. Interessant ist vor allem, was diese Zellen im
Gehirn an Interaktion betreiben, was sie also miteinander machen. Die Leber
z. B. hat ja auch viele Zellen: Deren Zellen sind aber alle gleich. Der Herzmuskel
hat ebenfalls viele Zellen: Auch sie sind sich alle gleich. Aber die Nervenzellen
im Gehirn stehen jeweils für etwas, dadurch unterscheiden sie sich auch alle.
In der Gesamtheit machen diese Zellen jedenfalls uns als Person aus. Genau
das macht das Gehirn so spannend. | Norten: | Wenn
wir uns mal die Entwicklung des Menschen ansehen und zunächst einmal den
Embryo bzw. den Fötus im Mutterleib betrachten: Dort im Mutterleib entwickelt
sich ja auch das Gehirn des Menschen. Wann bekommt denn so ein Fötus schon
mit, was um ihn herum vorgeht? Hört er z. B. bereits die Stimme seiner Mutter?
| Spitzer: | Das ist
von Sinn zu Sinn unterschiedlich. Der erste Sinn, bei dem das funktioniert,
ist der Tastsinn. Und dieser Tastsinn wir hier oben im Gehirn abgebildet.
(Professor Spitzer zeigt diese Stelle an einem mitgebrachten Gehirnmodell.)
Schon im Mutterleib entstehen dadurch, dass dieser kleine Kerl irgendetwas
erlebt - dass er also meinetwegen hier einen Knuff bekommt und dort einen
Knuff bekommt –, Repräsentationen im Gehirn von diesen Knuffen. Das heißt,
der kleine Kerl merkt, dass ihn meinetwegen mal am Fuß irgendetwas kribbelt
oder dass er mal am Hals einen kleinen Stoß abbekommt usw.: Entsprechend
gibt es hier im Gehirn quasi eine "Landkarte" unseres Körpers, die bereits
im Mutterleib entsteht. Diese Landkarte haben Sie und ich nun auch. Wir besitzen
natürlich eine etwas genauere und feinere Landkarte. Aber schon beim kleinen
Fötus im Mutterleib entsteht diese Karte. Der Kleine hört auch, er hört nämlich
die Stimme der Mutter. Die Stimme der Mutter hört er viel, viel besser als
irgendwelche anderen Geräusche, denn die Stimme der Mutter wird in ihrem
Körper ja über die Knochenleitung und somit letztlich über die Beckenschaufeln
übertragen. Das heißt, die Mutterstimme hört der Kleine in Stereo, Hifi-mäßig.
Alle anderen Laute hingegen hört er nur durch die Bauchdecke hindurch: Das
klingt für ihn sehr dumpf wie bei einer sehr dumpf und schlecht eingestellten
Hifi-Anlage. Die Stimme der Mutter hört er hingegen toll. | Norten: | Ist es denn wichtig, dass das Kind bereits in der Entwicklung solche Reize bekommt? | Spitzer: | Ja.
Man muss sich vorstellen, dass das Gehirn eines Menschen bereits in der Zeit,
in der man sich noch als Fötus im Mutterleib befindet, nicht einfach nur
reift und wächst größer wird, sondern schon anfängt, Dinge zu verarbeiten.
Es tut also schon ein bisschen was. Ich habe soeben gesagt, dass das für
die Tastempfindung so ist. Dies gilt aber auch für das Gehör. Man dachte
ja in der Medizin bis vor weniger als 100 Jahren, dass das Kind im Mutterleib
taub sei. Man dachte das deswegen, weil im Mutterleib ja Flüssigkeit ist
und das menschliche Ohr für Luft und nicht für Flüssigkeit optimiert ist.
In den zwanziger Jahren fiel aber einem Forscher einmal folgendes auf: Seine
schwangere Frau lag in der Badewanne und da fiel plötzlich ein Besen um und
krachte gegen diese Zinkbadewanne. Es machte einen Mordsschlag, worauf sich
das kleine Kind im Mutterleib bewegte. Hebammen wussten das freilich schon
seit Hunderten von Jahren und jede schwangere Frau wusste es. Die Wissenschaft
weiß das erst seit 1925, denn dieser Wissenschaftler hat darauf in der Tat
eine kleine Arbeit geschrieben darüber, dass das Kind im Mutterleib ganz
offensichtlich hört. Ein amerikanischer Kollege hat ein paar Jahre später
noch einmal etwas darüber geschrieben und seitdem weiß auch die Wissenschaft,
dass das Kind bereits im Mutterleib hört. | Norten: | Ich
"weiß" das selbst sozusagen, denn meine Mutter hatte einmal in ihrer Schwangerschaft
mit mir, als ich mich über längere Zeit hinweg nicht bewegt hatte, ein bisschen
Sorge um mich. Deswegen hat sie sich ihren Küchenwecker auf den Bauch gelegt.
Als dieser dann klingelte, hüpfte ich ganz ordentlich herum in ihrem Bauch.
Aber dieser Küchenwecker war mir dann Zeit meines Lebens immer so ein bisschen
suspekt. Kann es sein, dass man da so ein paar Erinnerungsspuren behält?
| Spitzer: | Ja, man
hat in der Tat Erinnerungsspuren an das, was im Mutterleib abläuft. Das schönste
Experiment auf diesem Gebiet wurde mal in einer ganz großen wissenschaftlichen
Zeitung publiziert. Es gibt ja Sendereihen, die täglich im Fernsehen laufen.
Man hat also einfach mal schwangere Frauen gefragt, ob sie eine bestimmte
Sendereihe kennen würden. Diese Sendungen haben ja auch immer ganz eigene
Erkennungsmelodien. Man hat dann diese Erkennungsmelodien dem Kind im Mutterleib
mittels eines Lautsprechers vorgespielt und dabei gleichzeitig ein Cardiotopogramm
geschrieben. Man hat also geschaut, was in dem Moment die Herztöne des Kindes
machen und ob sich das Kind bewegt deswegen. Bei denjenigen Frauen, die angegeben
hatten, dass sie sich seit längerem jeden Tag diese Serie ansehen, haben
die ungeborenen Kinder im Mutterleib sofort auf diese Erkennungsmelodie reagiert.
Bei denjenigen Frauen, die diese Sendung noch nie gehört hatten, haben die
Kinder erst nach ein paar Minuten angefangen, ein wenig auf diese Musik zu
reagieren. Nach der Geburt war dann die erste Gruppe der Kinder mittels dieser
speziellen Melodie gut zu beruhigen. Man kann also im Mutterleib akustisch
tatsächlich etwas lernen und man kann sich darüber hinaus auch noch nach
der Geburt daran erinnern. | Norten: | Kann denn auch der Gesang der Mutter einen positiven Einfluss nehmen? | Spitzer: | Ja,
ganz sicher, denn bereits dabei werden die Zentren, die für Musik bzw. Sprachverständnis
zuständig sind, wie man heute sagen würde, formatiert. Es ist sicherlich
nicht so, dass eine Mutter dann, wenn sie während der gesamten Schwangerschaft
Mozart-Arien singt, einen kleinen Mozart auf die Welt bringt. Das ist übertrieben.
Ich bin aber davon überzeugt, dass sie mit ihrem Gesang dafür sorgt, dass
das Kind in seiner Reifung und Entwicklung sozusagen optimal gefördert wird
und dabei auch erste "Verdrahtungen" hinsichtlich der Verarbeitung von Musik
herbeigeführt werden. | Norten: | Musik
ist ja ein Thema, das Sie sehr interessiert. Sie haben auch ein Buch darüber
geschrieben. Es heißt "Musik im Kopf" und ist soeben neu erschienen. Die
Musik ist ja etwas, das die Menschheit schon seit Urzeiten begleitet hat.
Mich würde nun interessieren, wie die Menschen darauf gekommen sind, überhaupt
mal irgendwelche Musik zu machen? | Spitzer: | Das
ist eine ganz gute Frage, aber unter uns gesagt: Das weiß bis heute eigentlich
niemand so richtig. Musik ist tatsächlich schon seit mindestens 50000 Jahren
von allen Menschen in allen Kulturen gemacht worden. Es gibt, das hat man
wirklich untersucht, keine Kultur, die keine Musik macht. Das gibt es einfach
nicht. Die ältesten Knochenflöten – Holzflöten verrotten ja, aber Knochenflöten
halten sich eben über die Jahrtausende – sind in der Tat 50000 Jahre alt.
Wenn man das weiß, dann muss man sich natürlich fragen, wie das kommt. Denn
unsere Vorfahren davor haben irgendwann einmal ja keine Musik gemacht: Menschenaffen
z. B. machen keine Musik. Sie machen Laute, aber sicher keine Musik. Man
fragt sich also, wie kommt das. Irgendwann muss es also eine Mutation oder
eine ganze Reihe von Mutationen gegeben haben, die quasi für die Musik zuständig
waren. Diese Mutationen brachten ganz offensichtlich eine ganze Reihe von
wirklichen Vorteilen für das emotionale Leben, für das Gruppenleben, für
die Arbeit in der Gruppe usw. Deswegen hat sich das unmittelbar durchgesetzt
und seither gibt es eben überall Musik. | Norten: | Sie
haben uns da etwas mitgebracht, einige Instrumente, wie man das nennen kann,
die wohl auch ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben. Das ist zum einen
eine Muschel: Da würde man doch zunächst einmal gar nicht erwarten, dass
eine Muschel auch dazu dienen kann, musikalische Geräusche zu erzeugen. Können
Sie uns das mal zeigen? | Spitzer: | Muscheln
sind für Blasinstrumente das, was Kürbisse für Trommeln sind: Das sind die
ältesten Manifestationen auf diesem Gebiet. An den Muscheln muss man fast
nichts mehr verändern, damit das funktioniert. Man macht einfach ein kleines
Loch hinein und bläst hinein. Wenn ich hier darauf tute, dann tönt das schon
ziemlich laut. Dieses Ding macht wirklich Krach. Damit kann man z. B. schöne
Signale geben oder man kann auch, wenn man es besser beherrscht als ich,
schon ein bisschen Musik damit machen. Das ist wirklich ganz schön laut.
Das hatte also wie gesagt eine Signalwirkung. Das Tolle ist dabei: Man findet
solche Muscheln einfach, die muss man nicht erst herstellen. Das hier ist
nun etwas anderes: Das ist so etwas wie eine Art Blockflöte, aber eben aus
Horn gemacht. Hierauf kann man tatsächlich Blockflöte spielen. Das nun wiederum
ist etwas, das es auch schon sehr lange gibt, nur habe ich da kein altes
Instrument, sondern nur eine moderne Manifestation davon mitbringen können.
Hier bei der Muschel schwingen meine Lippen. Bei der Blockflöte aus Horn
schwingt ein Stück Luft, das sich in ihr drinnen sozusagen teilt. Hier bei
diesem Instrument schwingt ein kleines Blättchen aus Holz oder aus Schilf.
Das hat man auch schon sehr lange benutzt: im Aulos z. B. bei den alten Griechen.
Das ist also, wenn Sie so wollen, ein moderner Aulos. Er klingt folgendermaßen
(spielt auf diesem Instrument, das wie eine Klarinette klingt). Das Ding
heißt Klarinette, ist auch eine Klarinette, aber nur eine kleine und deswegen
ist die korrekte Bezeichnung "Taschenklarinette". Mit diesen drei Methoden
hat man also schon vor Tausenden von Jahren Musik gemacht. Bis heute macht
das Spaß und deswegen gibt es die Musik eben auch heute noch. | Norten: | Nun
ist es ja so, dass viele Menschen nicht alleine musizieren, sondern in Gemeinschaft.
Das gemeinschaftliche Erleben der Musik spielt ja wohl eine ganz besondere
Rolle bei den Menschen. | Spitzer: | Musik
wurde und wird eigentlich gemeinschaftlich gemacht. Das fängt schon bei den
Wiegenliedern an. Die Wiegenlieder Mütter gibt es in allen Kulturen. Man
könnte nun meinen, dass diese Lieder kulturell tradiert und daher vollkommen
verschieden sind. Dem ist aber nicht so: Wiegenlieder sind in allen Kulturen
gleich. Und der Grund dafür ist auch ganz einfach. Das fängt schon damit
an, dass man das Baby immer so auf dem Arm hat, dass dessen Kopf bei einem
selbst immer an der linken Seite der Brust liegt: Dort hört es nämlich den
Herzschlag am Ohr, diesen Herzschlag, den es auch im Bauch der Mutter bereits
im Ohr hatte. Deswegen hört das Baby diesen Herzschlag einfach besser, als
wenn man es mit dem Kopf vor die rechte Brustseite legen würde. Gleichzeitig
ist es bei der ersten, der richtigen Weise, wie man ein Baby hält, so, dass
dabei das Gesicht des Babys, wenn man es ansieht, in diejenige Gehirnhälfte
fällt, in der man die Emotionen besser verarbeiten kann. Das Gesicht desjenigen,
der das Baby trägt, fällt beim Baby ebenfalls in diejenige Gehirnhälfte,
die die Emotionen besser verarbeiten kann. Das macht also auch aus diesem
Grund noch einmal einen Sinn. Wenn man dann singt, dann wiegt man das Kind
dabei. Wenn man das Kind dabei jedoch wiegt, dann macht man das mit einer
Frequenz, die der Schwingungsfrequenz des eigenen Körpers entspricht: Das
ist genau die Grundfrequenz von Wiegenliedern, das ist nämlich so schön langsam.
Das ist meistens so etwas wie ein langsamerer Walzer, weil der nämlich genau
der Grundfrequenz von menschlichen Körpern entspricht. Hinzu kommt, dass
Wiegenlieder – nehmen Sie als Beispiel ein Lied wie "Schlafe, mein Kindchen,
schlaf ein" – immer "abwärts" gehen. Abwärts bedeutet aber wiederum "Ende".
Das ist bei allen Menschen so. Warum? Man könnte ja behaupten, dass für manche
Menschen ein aufwärts "Ende" bedeutet. Nein, es bedeutet immer nur abwärts
"Ende". Der Grund dafür ist ganz simpel. Wenn wir sprechen, dann geht uns
nämlich irgendwann die Luft in unserem "Blasebalg" Lunge aus. Wenn uns aber
die Luft ausgeht, dann geht weniger Luft durch die Stimmbänder, damit nimmt
der Druck ab und damit nimmt auch die Grundfrequenz ab. Deswegen geht die
Stimme nach unten, abwärts. Wenn die Melodie nach unten geht, dann heißt
das deshalb: "Ich höre jetzt auf zu sprechen, zu singen usw.!" Aus dem Grund
bedeutet eine Abwärtsbewegung "Ende". Somit haben wir die Melodie und den
Rhythmus von Wiegenliedern, wenn Sie so wollen, durch den menschlichen Körper
und durch die Art, wie wir miteinander umgehen, schon festgelegt. | Norten: | Nun
gibt es ja auch Familien, die gemeinsam musizieren. Hausmusik ist heute zwar
nicht mehr ganz so populär, wie es mal war, aber an Weihnachten werden dennoch
häufig gemeinsam Weihnachtslieder gesungen. Welche Rolle spielt das für die
Familien? | Spitzer: | Ich
glaube, das ist sehr schön, wenn es klappt und wenn es nicht aufgezwungen
ist, sondern wenn das spontan geschieht, weil es einfach Spaß macht. Ich
glaube, dass das gemeinsame Musizieren etwas ist, das unglaublich Spaß macht.
Es gibt mittlerweile auch Untersuchungen in dem Zusammenhang. Wir haben nämlich
in unserem Gehirn so etwas wie ein Belohnungssystem: Das könnte ich hier
an diesem Modell gar nicht zeigen, weil ich das ganze Gehirn erst auseinander
nehmen müsste, so tief drinnen liegt das. Dieses Belohnungssystem springt
z. B. an, wenn wir Schokolade essen. Das springt auch an, wenn wir einen
Suchtstoff einnehmen, aber es springt genauso auch an, wenn wir schöne Musik
hören. Es springt sogar an, wenn man einen netten Blick zugeworfen bekommt
oder wenn man etwas Nettes sieht. Dieses Belohnungssystem ist auch für unsere
Gemeinschaft ganz wichtig, denn wir wissen seit ein paar Monaten, dass es
auch anspringt, wenn wir uns z. B. kooperativ verhalten. Das heißt, Musik
und die soziale Funktion von Musik ist nichts, das uns irgendwie kulturell
übergestülpt wäre. Nein, das kommt, wenn man so will, ganz tief aus unserem
Gehirn heraus. Das macht unser Gehirn, das macht es mit uns. Deswegen glaube
ich auch, dass es ganz wichtig ist, dass man mit Kindern im Kindergarten
und später auch in der Grundschule wirklich viel Musik macht: Das macht den
Kindern Spaß, wenn man es richtig macht. Das macht ihnen automatisch Spaß,
weil es allen Menschen Spaß macht. Das hat eine ganz wichtige Funktion für
deren Sozialisierung: Kinder lernen dabei nämlich auch, dass es Spaß macht,
wenn man zusammen etwas macht, dass es Spaß machen kann, wenn man mal ein
bisschen still sitzen muss. Man lernt dabei auch, sich aufeinander einzustellen.
Man lernt dabei also sozusagen viele subtile Dinge, die man können muss,
wenn man in der Schule weiterhin Erfolg haben will. Diese Dinge lernt man
automatisch und mit viel Spaß durch die Musik. Deswegen ist meiner Meinung
nach die Musik so wichtig. | Norten: | Es
gibt ja auch Menschen, die von sich selbst sagen, sie seien völlig unmusikalisch.
Sie singen vielleicht auch wirklich nur sehr schräg. Ist da in der frühen
Kindheit etwas verpasst worden? | Spitzer: | Das
ist eine gute Frage. Wahrscheinlich kommen da zwei Dinge zusammen, wie so
oft im Leben. Da ist von Beginn an vermutlich bereits weniger Interesse vorhanden
und es wird auch etwas verpasst. Das schaukelt sich dann hoch. Dies betrifft
aber nur ungefähr fünf Prozent der Menschen. Das sind nur fünf Prozent der
Kinder, und die sind meistens männlich: Man nennt sie Brummer, weil sie einfach
nur brummen, wenn man mit denen zusammen im Chor singt und sie einfach keine
Vorstellung davon haben, dass sie nicht den Ton singen, den sie eigentlich
singen sollten. Diese Kinder gibt es, aber das sind nur wenige. Diese Kinder
könnte man stattdessen vielleicht für den Rhythmus begeistern. Insofern glaube
ich nicht, dass es einen genuin unmusikalischen Menschen gibt. Es gibt diese
fünf Prozent Brummer und es gibt auch welche, die mit dem Rhythmus nur ganz
wenig am Hut haben, das stimmt schon. Wenn man aber alles in allem betrachtet,
muss man sagen, dass die meisten Menschen sehr musikalisch sind. | Norten: | Musik
ist etwas, das man lernen kann – auch im Musikunterricht. Lernen ist ein
ganz wichtiger Faktor, bei dem das Gehirn freilich die ganz zentrale Rolle
spielt. Aufgrund der PISA-Studie wissen wir leider, dass die Kinder keine
so gute Bildung haben, wie wir uns das wünschen würden. Sie selbst haben
sich ja auch mit dem Lernen beschäftigt und sind u. a. auch beim Bildungsrat
in Baden-Württemberg beratend tätig. Was können Sie denn aufgrund Ihrer Hirnforschung
sagen, wie man Lernen angehen sollte? | Spitzer: | Nun
zunächst einmal eine Aussage, die Sie vielleicht wundern wird: Das Gehirn
lernt immer! Es gibt eine Sache, die das Gehirn nicht kann, und das meine
ich ganz ernst: Das ist das Nicht-Lernen. Wenn man das zu Lehrern sagt, dann
stutzen sie immer und sagen: "So, bei uns lernen die Kinder den Vormittag
nicht!" Das stimmt aber nicht, gerade Kinder – bei älteren Menschen stimmt
das auch, aber gerade bei Kindern ist das ganz ausgeprägt der Fall – lernen
immer, ob sie wollen oder nicht. Sie lernen vielleicht nicht immer das, von
dem wir wollen, dass sie es lernen sollen, aber sie lernen immer. Bei kleinen
Kindern ist das ganz extrem so. Beim Kleinkind ist es z. B. so, dass es alle
90 Minuten ein neues Wort lernt. Aber es lernt ja nicht nur Einzelheiten,
und das ist etwas, das oft übersehen wird: Denn beim Lernen ist ja das eigentlich
Wichtige, dass man die Strukturen hinter den Einzelheiten lernt. Unser Gehirn
ist wirklich optimal darauf ausgerichtet, gerade die Strukturen hinter den
Einzelheiten zu lernen. Mein Lieblingsbeispiel ist folgendes: Sie können
sich bestimmt nicht an all die vielen Tausend Tomaten erinnern, die Sie im
Laufe Ihres Leben schon gesehen haben. Das wäre aber auch gar nicht gut,
denn eigentlich wollen Sie sich nur an die allgemeine Tomate erinnern, denn
genau das hilft Ihnen dabei zu wissen, was sie mit ihr zu tun haben, wenn
sie der nächsten Tomate begegnen. Wenn Sie nur jede einzelne Tomate in Ihrem
Kopf abgespeichert hätten, dann würde Ihnen das für die nächste Tomate überhaupt
nichts nützen, denn sie hätten nur lauter Tomaten im Kopf. Und das wäre ziemlich
witzlos. Dass das tatsächlich auch in vielen anderen Bereichen so ist, kann
man z. B. auch an Sprachbeispielen erkennen. Kinder lernen eben nicht nur
einzelne Wörter. Das, was sie darüber hinaus lernen, fängt schon sehr früh
an: Wir wissen, dass das schon im ersten Lebensjahr anfängt. Sie lernen nämlich
auch die Struktur, die hinter den Wörtern steckt. Säuglinge mit sieben Monaten
können z. B. bereits Sprachstrukturen unterscheiden und werden ganz aufmerksam,
wenn man ihnen meinetwegen immer wieder sagt: "Wuwewu, titati, sesase..."
Das ist immer das Gleiche, nämlich immer a-b-a. Wenn man dann auf einmal
"mimito" sagt, dann schaut so ein Kleinkind aber! Das geschieht bereits mit
sieben Monaten! Es ist also gar nicht wichtig, was man sagt, sondern es kommt
darauf an, dass man mit einem Mal eine andere Struktur sagt. Man kann sogar
die gleichen Silben nehmen: Es kommt immer nur auf die unterschiedliche Struktur
an. Man kann damit also herausfinden, dass bereits Kinder mit nur sieben
Monaten diese Struktur unterscheiden können. Mit Fünfjährigen kann man z.
B. bereits richtige Grammatikspielchen machen: "Die Zwerge sitzen beieinander
und quangen. Und am nächsten Tag sagt einer der Zwerge: 'Was haben wir gestern
gemacht?'" Und der Fünfjährige wird einem sofort sagen: "Sie haben gequangt!"
Das heißt, ein Kind kann das Partizip Perfekt sogar von einem Verb bilden,
das es gar nicht gibt. So kann man herausbekommen, dass so ein Kind tatsächlich
bereits die Regel weiß und dass es meinetwegen nicht nur eine Tabelle im
Kopf hat, in der es unter dem einzelnen Wort in der Präsensform nachschauen
könnte, wie das Partizip Perfekt gebildet wird. Ein weiteres Beispiel: Wussten
Sie, dass im Deutschen die Verben auf "-ieren" ihr Partizip Perfekt ohne
"ge-" bilden? Es heißt also: "Ich habe mir gestern die Haare geschnitten."
Aber es heißt eben gerade nicht: "Ich habe mir gestern den Bart gerasiert."
Nein, es muss heißen: "Ich habe mir den Bart rasiert." Dieses Verb mit "-ieren"
bildet also das Partizip Perfekt ohne "ge-". Wenn wir wieder einen kleinen
Fünfjährigen als Beispiel nehmen und zu ihm sagen: "Hör mal, wie geht das
nun, wenn die Zwerge beieinander sitzen und partieren. Wenn dann am nächsten
Tag ein Zwerg sagt: "Mensch, ich habe gestern wieder mal so richtig schön...'
Wie muss das heißen?" Das Kind wird automatisch sagen "partiert" und nicht
"gepartiert" sagen. So etwas wissen bereits die Fünfjährigen. Hat ihnen das
jemand beigebracht? Nein, das haben sie sich selbst beigebracht. Gehirne
sind so, die können das! Sie können nichts besser, als sich tatsächlich solche
allgemeinen Strukturen aus dem täglichen Gewusel herauszusaugen und auf sich
abzubilden. Dafür sind unsere Gehirne unheimlich gut geeignet. | Norten: | Es
gibt ja auch Eltern, die zweisprachig sind, weil das Elternpaar z. B. unterschiedliche
Nationalitäten hat. Es zeigt sich ja immer wieder, dass die Kinder deren
beide Sprachen sehr leicht lernen können. Ist das aber nicht doch vielleicht
eine Überbeanspruchung für so ein kleines Gehirn? | Spitzer: | Für
die meisten Kinder ist das wahrscheinlich gut. Man muss hier vermutlich genau
unterscheiden zwischen begabten und weniger begabten Kindern. Es gibt nämlich
auch Kinder, die bereits mit unserer Muttersprache überfordert sind. Denn
Sprache ist etwas, bei dem unser Gehirn sozusagen an die Grenze dessen kommt,
was es leisten kann. Der akustische Sinn ist nämlich der schnellste Sinn,
den es gibt. Der Unterschied zwischen g und k, zwischen b und p oder d und
t beträgt, wenn man diese Konsonanten normal schnell hintereinander ausspricht,
gerade mal 20 Millisekunden. Bei vier Prozent der Kinder – manche Wissenschaftler
sagen, dass das sogar bei bis zu acht Prozent der Kinder der Fall sein könnte
– ist das Gehirn ein bisschen zu langsam und deswegen können sie beim Hören
diese Konsonanten nicht unterscheiden. Sie verstehen dann also nur noch einen
Soundbrei. Diese Kinder lernen also noch nicht einmal ihre Muttersprache
richtig, von einer Fremdsprache ganz zu schweigen. Wenn solche Kinder dann
von Anfang an mit zwei Sprachen konfrontiert werden, stürzen sie vollkommen
ab. Wenn die Kinder aber im umgekehrten Fall das gut können, wenn sie auf
diesem Gebiet recht pfiffig sind und wenn der eine Elternteil meinetwegen
immer nur die eine und der andere Elternteil die andere Sprache spricht,
sodass die Kinder diesen Unterschied klar zuordnen können, dann werden diese
Kinder ganz bestimmt zwei Muttersprachen akzentfrei sprechen lernen. Das
ist ein Segen, denn sie müssten dann diese zweite Sprache nicht mit viel
Aufwand und Ärger erst in der Schule lernen und hätten dann doch vermutlich
immer noch einen kleinen Akzent in dieser Fremdsprache. | Norten: | Wie
sollen den Eltern reagieren, wenn sie merken, dass das eigene Kind irgendwie
nicht so richtig in die Gänge kommt, dass es noch nicht einmal die eigene
Muttersprache so richtig erlernt. Sie haben das soeben ja beschrieben und
auch quasi einen gehirnorganischen Grund dafür genannt. Kann man so etwas
untersuchen lassen? Kann man da zum Arzt gehen? | Spitzer: | Jein.
Da befindet sich die Wissenschaft gerade noch in der Forschung. Man weiß,
dass diese Kinder nicht böswillig sind und auch nicht dumm und dass sie schon
gar nicht faul sind. Man weiß vielmehr, dass diese Kinder tatsächlich in
einer relativ frühen Stufe der akustischen Verarbeitung ein Problem haben,
das ganz schnell unterscheiden zu können. Deswegen klingen für sie bestimmte
Laute ähnlich und deswegen haben sie Mühe beim Spracherwerb. Das Problem
ist: Was kann man da nun machen? Man kann solche Störungen tatsächlich bereits
im Kindergartenalter diagnostizieren. Und man kann diese Störungen heute
eigentlich auch schon behandeln. Man kann nämlich die Sprache nehmen und
sie im Computer digital auseinander ziehen. Der Unterschied zwischen g und
k in der normalen Aussprache beträgt dann eben nicht mehr nur 20 Millisekunden,
sondern 40 Millisekunden. Das Kind hört dann plötzlich etwas, das es vorher
nicht gehört hat und lernt das auch. Es kann dann einen Unterschied lernen,
der vorher nicht wahrnehmbar war. Diese Kinder können dann ihre Sprachentwicklung
innerhalb von wenigen Dutzend Stunden nachholen. Ein Amerikaner hat auf diese
Weise 100000 Kinder behandelt, selbstverständlich mit einem ganzen Konsortium
von Menschen, die ihm dabei geholfen haben. Er konnte zeigen, dass etwa 30
Stunden Behandlung die Testergebnisse der Kinder in der ganz normalen Sprachentwicklung
und im Sprachverständnis um mehr als eine Standardabweichung – das ist ein
Riesenschritt – verbessern. Man könnte sogar Folgendes machen, und das ist
mittlerweile auch schon gezeigt worden. Man kann Zweijährigen zwei kurz hintereinander
erfolgende Klicks "Klickklick" anbieten: Man kann dabei die Hirnströme des
Kindes aufzeichnen. Für jedes Klick bekommt man dann einen Zacken auf der
Graphik. Diese Klicks kann man dann im Laufe der Zeit immer näher zusammenschieben.
Wenn man diese beiden Klicks mit 40 Millisekunden Abstand präsentiert, bekommt
man zwei Zacken auf der Graphik. Wenn man sie auf 20 Millisekunden zusammenschiebt,
bekommt man bei den meisten Zweijährigen immer noch zwei Zacken. Aber bei
denjenigen, die halt ein bisschen langsamer sind, ergibt das nur noch einen
Zacken. Das heißt, man kann die Ursache einer Sprachentwicklungsstörung zumindest
im Prinzip bereits dann diagnostizieren, wenn sie noch gar nicht eingetreten
ist. Damit kann man sie auch bereits behandeln, wenn sie noch gar nicht eingetreten
ist. Aber wohlgemerkt: Das ist der Stand der Forschung. Das gibt es bis jetzt
noch nicht, aber ich setze mich sehr dafür ein, dass wir das in vielleicht
drei bis fünf Jahren haben werden. Denn damit können wir ein ganz großes
Problem, nämlich das Problem der Lesestörung, im Grunde genommen eliminieren.
Die Hirnforschung ist jedenfalls bereits so weit. |
Norten: | Sie
sagten, dass in den USA diese vielen Kinder damit behandelt worden sind.
Diese Kinder müssen ja ein kolossales Erfolgserlebnis gehabt haben, als auch
bei ihnen dann dieses Spracherlernen funktionierte. Wie wirkt sich denn so
etwas aus auf die Kinder? Das muss doch enorm motivierend sein. | Spitzer: | Ja,
absolut, selbstverständlich. Motiviert wird man immer dann, wenn etwas klappt.
Man kann auch zeigen, dass unser Gehirn gerade auf die Dinge aus ist, die
funktionieren. Wenn nämlich etwas klappt und vor allem, wenn etwas besser
klappt, als wir zunächst einmal gedacht hatten, dann sind wir total motiviert,
dann machen wir genau das. Unser Gehirn ist einfach so gestrickt, dass es
gar nicht anders kann, als immer darauf zu achten, was besser klappt, als
man dachte. Genau das lernen wir, darauf springen wir an, das motiviert uns.
So eine "Maschine" haben wir also in unserem Körper bereits eingebaut. Wenn
man es also schafft, dass den Kindern Sachen gelingen z. B. bei der Sprachentwicklung,
beim Sport oder meinetwegen beim Flötenunterricht, dann bringt das unglaubliche
Fortschritte. Was es jeweils ist, ist völlig egal: Wichtig ist, dass es funktioniert.
Wenn es dann aber funktioniert, dann braucht man gar nicht mehr viel tun,
denn dann lernt das Kind von alleine. Die Idee des Lernens besteht ja normalerweise
darin, den Kindern von außen mit dem erhobenen Zeigefinger etwas einzutrichtern.
Das ist aber eine völlig falsche Einschätzung der Situation. Nehmen wir nur
mal ein Beispiel. Man sagt ja Kindern häufig mit erhobenem Zeigefinger: "Iss
deinen Teller leer! Mach deine Hausaufgaben! Sitz still und bohr nicht immer
in der Nase!..." Gelernt hat das Kind jedoch nur die allgemeine Struktur
dieser Episoden und die geht so, dass ihm mit erhobenem Zeigefinger und mit
entsprechender Stimme etwas gesagt wird. Der einzelne Satz selbst geht dabei
jedoch bei dem einen Ohr hinein und beim anderen wieder raus. Die allgemeine
Struktur unserer Interaktion hat das Kind jedoch recht bald drauf, genauso
wie es die Grammatik drauf hat und viele andere Dinge ebenfalls. | Norten: | Schauen
wir uns doch mal die Schule genauer an, denn hier liegt ja wohl auch ein
Teil der PISA-Misere. Was sollten denn eigentlich die Lehrer beachten? Viele
Kinder gehen ja nicht gerne in die Schule und sind nicht motiviert, haben
einfach keine Lust auf die Schule. Sie sagen aber, dass das Gehirn eigentlich
lernen will. Das ist doch irgendwo ein Widerspruch. Wie könnte man denn diesen
Widerspruch in den Griff bekommen? | Spitzer: | Zunächst
einmal Folgendes: Die PISA-Studie gibt uns vorrangig keine Diagnose unserer
Schulen, sondern unserer Gesellschaft. Man muss sich einfach mal folgenden
Sachverhalt klar machen: Vor 50 Jahren gingen die Kinder in die Schule und
in der Schule war einfach etwas los. Hinterher, wenn man im Heu gespielt
hat, war nicht so viel los. Das mag nun vielleicht etwas zu romantisch klingen,
aber so in etwa kann man sich das zumindest vorstellen. Heute sind die Kinder
müde und gehen in die Schule. Und dann ist es dort erst einmal langweilig.
Die Kinder sagen zwar, sie hätten Stress, es gibt aber eine schöne Untersuchung
von der Universität Freiburg in diesem Zusammenhang. Man hat es dort tatsächlich
geschafft, über einen längeren Zeitraum bei einer größeren Gruppe von Kindern
Puls, Blutdruck und Hautwiderstand zu messen. Man hat also deren affektive
Maße gemessen: Maße, die Auskunft über die emotionale Erregtheit geben. Gleichzeitig
hat man die Kinder jede Viertelstunde gefragt, wie es ihnen geht. Dabei ist
dann etwas sehr, sehr Interessantes herausgekommen. Die Kinder sagten nämlich,
dass sie morgens in der Schule Stress hätten. Wenn man aber schaut, was der
Körper dabei macht, dann stellt man fest, dass das Gegenteil der Fall ist:
Der Blutdruck und der Puls sind im Keller und beim Hautwiderstand tut sich
auch gar nichts. Das heißt, das emotionale Beteiligtsein der Kinder ist vollkommen
am Boden. Wenn die Kinder dann am Nachmittag nach Hause kommen und meinetwegen
in die Spielothek gehen oder sie sich im Fernsehen irgendein neues Hollywood-Drama
reinziehen, dann geht was ab bei ihnen: Da sind sie emotional dabei, was
ihren Körper betrifft. Die Kinder hingegen sagen, dass sie sich dabei entspannen.
Auf der körperlichen Ebene aber sind klar die Emotionen dabei vorhanden.
Wenn man nun weiß, und dafür gibt es wunderbare Experimente, dass wir die
Emotionen brauchen, um lernen zu können, dann sagt das einiges aus. Denn
wenn wir unbeteiligt sind, dann lernen wir auch nichts. Wenn man aber beteiligt
ist, dann lernt man etwas. Wenn man sich also einmal den Tagesablauf unserer
Kinder ansieht, dann stellt man fest, dass der Lehrer in der Schule eigentlich
auf fast verlorenem Posten kämpft. Er kommt gegen Hollywood am Nachmittag
und am Abend nicht an, obwohl er das eigentlich können müsste, um die Emotionen
der Kinder noch stärker zu stimulieren, als das meinetwegen ein Hollywoodfilm
tut. Genau das kann er aber nicht: Das schafft er nicht. Er kämpft also auf
verlorenem Posten, weswegen viele Lehrer längerfristig auch wirklich verzweifeln,
weil sie sich in einer Situation befinden, in der man das alles bei den Kindern
fast nicht mehr gutmachen kann. | Norten: | Was
kann denn hier die Familie machen? Sie sagten, dass das eigentlich ein gesellschaftliches
Problem sei. Soll man denn den Kindern verbieten, dass sie nachmittags in
die Spielothek gehen? | Spitzer: | Nein,
verbieten sollte man so wenig wie möglich, denn das geht immer schief. Aber
ich könnte mir vorstellen, dass man sich endlich mal überlegt, ob es wirklich
so gut ist, dass die Highlights der Kinder auf den Nachmittag oder vielleicht
sogar auf den Abend verlegt werden. Wenn die Kinder am Abend viel zu lange
auf sind, sind sie am nächsten Morgen müde: Das ist ungünstig. Kinder brauchen
nun einmal jede Menge Schlaf. Wenn sie morgens unausgeschlafen in der Schule
sind, was ja bei vielen Kindern der Fall ist, dann ist das nicht gut für
das Lernen. Das ist alles recht banal, aber so ist es nun einmal. | Norten: | Ich habe ja als Kind noch gelernt, dass ich spätestens um acht Uhr im Bett sein musste: Das hatte wohl schon seinen Sinn? | Spitzer: | Ja,
absolut. Aber das ist ja heute flächendeckend nicht mehr der Fall. Deswegen
wird in der Schule heutzutage wenig und wenig nachhaltig gelernt. Es gibt
natürlich schon auch Dinge, die man in der Schule verbessern kann. Ich glaube,
es ist wichtig, dass Lehrer auch motiviert sind, dass Lehrer auch Spaß an
ihrem eigenen Fach haben. Sie dürfen also ihr Fach nicht runterreißen, sondern
müssen selbst Spaß daran haben. Wenn das so ist, dann kann ein Lehrer diesen
Spaß auch den Kindern vermitteln – wenn er selbst diesen Spaß daran hat.
Darüber hinaus hat aber auch das ganze System ein paar kräftige Macken. Eine
dieser schönen Macken besteht z. B. darin, dass es in Baden-Württemberg die
Verordnung gibt, dass sich Klassenarbeiten prinzipiell nur um den Lernstoff
der letzten sechs Wochen drehen dürfen. Man muss sich nur anschauen, welche
Auswirkungen das hat: Die Schüler lernen nur noch in der Nacht vor der Klassenarbeit.
Das ist völlig klar. Sie ziehen sich da den Stoff rein, wie man so schön
sagt. Am nächsten Tag schreiben sie ihre Arbeit und dann vergessen sie das
Ganze wieder. Davon muss man wirklich vollkommen weg. Denn wir wissen doch
heute, dass unser Gehirn auf diesem Gebiet ein sehr langsamer Lerner ist:
Es lernt nur ganz, ganz langsam und aufgrund von vielen, vielen Beispielen.
Was müsste man also machen? Man müsste einfach nur diese Verordnung umdrehen:
Klassenarbeiten beziehen sich auf alles, außer auf die letzten sechs Wochen.
Dies würde bei den Schülern dazu führen, dass sie sagen: "Hoppla, da hat
es ja gar keinen Sinn, dass ich mir in der Nacht vorher etwas reinpauke.
Ich muss stattdessen jeden Tag ein bisschen lernen, damit ich dann auch den
Stoff vom letzten Jahr noch weiß." Dies würde also bei den Schülern zu einem
viel vernünftigeren Lernverhalten führen, denn die Schüler lernen heute so,
dass sie langfristig wirklich nichts behalten können. Das ist heute einfach
so. Sogar bei den Lehrern hätte das eine positive Auswirkung: Denn die Lehrer,
und das wissen wir eben auch, reden leider gar nicht so viel miteinander
über die Schule und über das, was sie im Unterricht machen. Sie sind nämlich
ziemliche Einzelkämpfer. Wenn man diese Regel jedoch umdrehen würde, dann
müsste der Lehrer, der im Herbst die erste Klassenarbeit schreibt, seinen
Kollegen fragen, was er im letzten Schuljahr gemacht hat. Auf diese Weise
müssten die Lehrer plötzlich miteinander über den Inhalt ihres Unterrichts
sprechen, was heute jedoch kaum vorkommt. Wir wissen wirklich, dass das kaum
vorkommt, denn darüber gibt es ausführliche Studien. Wenn man also nur einmal
diese kleine Regel umdrehen würde, dann bin ich mir sicher, dass man dadurch
das Lernen und auch die Qualität des Unterrichts nachhaltig verbessern würde.
| Norten: | Können
Sie denn mit Ihren Verfahren sehen, wenn und wie das Gelernte im Gehirn abgespeichert
wird? Können Sie das deutlich machen? | Spitzer: | Ja,
es gibt heute tatsächlich die Möglichkeit zu zeigen, dass sich das Gehirn
zunächst einmal dauernd ändert, und zwar nachhaltig ändert, je nachdem, was
man tut. Das bekannteste Beispiel dafür sind mittlerweile wieder Musiker,
wenn sie meinetwegen Gitarre oder Geige spielen. Deswegen bin ich ja auch
auf die Idee gekommen, ein Buch über Musik zu schreiben, denn Musik ist hierfür
oftmals ein sehr schönes Beispiel. Wenn man Gitarre und Geige spielt, dann
macht man z. B. ganz viel mit den Fingern der linken Hand. Entsprechend bekommt
man dann im Gehirn in dieser Landkarte, die bereits das Baby im Mutterleib
bildet, mehr Platz für die Finger der linken Hand. Das ist nicht nur ein
bisschen der Fall, sondern das erstreckt sich in der Tat über ein relativ
großes Stück. Kein Geiger hat z. B. hier an dieser Stelle so einen Knubbel,
weil sich da einfach die Landkarte ändert und nicht noch weitere Nervenzellen
hinzukommen. Diese Landkarte ändert sich wirklich messbar. Wenn man z. B.
Blindenschrift lernt, dann macht man mit diesem Stück Körperoberfläche, also
mit den Fingerkuppen, ganz viel: Man tastet ganz viel und verarbeitet das
auch ganz genau. Jede einzelne Erhöhung ist da ja wichtig. Deswegen bekommt
man dann auch hier auf dieser Landkarte mehr Platz für dieses Stück Körperoberfläche.
Wir wissen heute, dass Musiker daher auch mehr Platz für Töne im Gehirn haben:
Trompeter haben mehr Platz für Trompetentöne und Geigenspieler mehr Platz
für Geigentöne usw. Dafür gibt es heute wirklich viele Beispiele. Das heißt
also, dass wir wissen, dass sich das, was sich in unserem Gehirn tut, dass
sich das, was auf ihm abgebildet ist, wirklich permanent erfahrungsabhängig
ändert. Das muss man sich klar machen. Wir setzen uns ja dauernd irgendwelchen
Erfahrungen aus: Es hängt dann schlichtweg von diesen Erfahrungen ab, was
in unserem Gehirn wirklich dauerhaft gespeichert wird. | Norten: | Das
Gehirn ist ja ein sehr empfindliches Organ: Man kann da nicht einfach so
hineinpieksen, um es zu untersuchen. Aber es gibt da so genannte bildgebende
Verfahren, mit denen man das optisch darstellen kann. Man muss dafür wohl
in eine bestimmte Röhre kriechen, damit man das Gehirn abbilden kann. Könnten
Sie uns das etwas näher erklären, denn mit diesem Verfahren können Sie ja
bestimmte Dinge ganz genau erkennen? | Spitzer: | Man
kann ja schon seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten das Gehirn von außen anatomisch
untersuchen, ohne es dafür aufzuschneiden. Seit ziemlich genau zehn Jahren
ist es nun möglich, Blut – und das ist schon eine recht geniale Sache – als
Kontrastmittel zu verwenden. Man weiß schon länger, dass dorthin, wo die
Gehirnzellen besonders viel arbeiten, viel Blut, viel sauerstoffreiches Blut
geschafft wird. Denn wenn das Gehirn dort viel arbeitet, dann braucht es
dort auch Energie, also Sauerstoff. Nun ist es aber so, dass sauerstoffreiches
und sauerstoffarmes Blut ein bisschen unterschiedliche magnetische Eigenschaften
haben. Es gibt nun seit einiger Zeit so genannte Magnetresonanztomographen:
Das ist diese Röhre, in die man hineingefahren wird. Mit Hilfe der magnetischen
Eigenschaften von Gewebe können in dieser Röhre Bilder vom Gehirn gemacht
werden. In dem einen Gewebe ist z. B. mehr Wasser drin und in dem anderen
weniger. Der Wassergehalt hat aber wiederum bestimmte magnetische Eigenschaften.
So bekommt man eben diese bestimmten grauen Bilder. Der Witz ist aber nun
folgender. Man liegt da in diesem Scanner, in dieser Röhre, und schaltet
Diskobeleuchtung ein, also Flackerlicht. Man weiß schon seit 100 Jahren,
dass es dort hinten im Gehirn einen Bereich gibt, das für das Licht zuständig
ist. Dieser Bereich wird also aktiv, wenn man etwas sieht. Wenn man nun Flackerlicht
versus Dunkelheit macht und dann zwei Bilder schießt – man macht in der Realität
natürlich viel mehr, aber um hier das Prinzip zu erklären, nehme ich nur
zwei – und anschließend diese beiden Bilder aufeinander legt, um Bildpunkt
für Bildpunkt miteinander zu vergleichen, dann sieht man, wo die Unterschiede
sind. Das macht man ganz einfach, indem man diese beiden Bilder voneinander
abzieht und schaut, wo denn da noch etwas übrig bleibt. Wenn man Flackerlicht
versus Dunkelheit hat, bleibt genau dort hinten im Gehirn etwas übrig. Wenn
man nun das, was übrig bleibt, gelb oder rot einfärbt und auf ein ganz normales
graues Bild von den Strukturen drauflegt, dann bekommt man genau diese üblichen
Bilder über das Gehirn, die man heute in einschlägigen Zeitschriften sehen
kann: Das ist ein graues Gehirn mit bunten Flecken drauf. Diese bunten Flecken
zeigen eben an, wo im Gehirn mehr los war unter dieser einen Bedingung, nämlich
unter der Bedingung des Flackerlichts im Vergleich zur Dunkelheit. | Norten: | Man
kann dieses Verfahren ja auch benutzen, um Krankheiten zu diagnostizieren.
Schizophrenie und Depression sind zwei Krankheiten, die früher eigentlich
nur der Psyche zugeschrieben wurden. Man kann bei diesen Krankheiten heute
aber auch organisch etwas feststellen. | Spitzer: | Ja.
Das, was ich soeben gesagt habe, zeigt ja eigentlich schon, dass es diese
Unterscheidung des rein Psychischen oder des rein Organischen nicht mehr
gibt. Diesen Unterschied kann man heute nicht mehr behaupten. Ist Geige-spielen-Können
etwas Psychisches? Ich könnte ja auch sagen, das ist etwas Organisches, denn
der Geigenspieler hat nun einmal hier an einer bestimmten Stelle einen riesengroßen
Knubbel fürs Geigespielen. Ist die Depression psychisch? Wenn man nur lange
genug bestimmte Probleme hat, dann hat man in der Tat ein riesengroßes psychisches
Problem. Aber die Depression ist deswegen dann auch irgendwann organisch,
weil sie nun einmal die Gehirnbiochemie ändert, wenn man nur genügend Probleme
hat. Und diese veränderte Gehirnbiochemie kann leider auch bleiben, wenn
die Probleme weggehen. Und sie kann vor allem, das ist leider meistens der
Fall, dafür sorgen, dass man noch mehr Probleme bekommt. Da nützt es dann
gar nichts, wenn ich zu jemandem sage, er solle sich endlich zusammenreißen
oder wenn ich nett mit jemandem spreche. Das nützt überhaupt nichts. Man
muss sich stattdessen ganz einfach um die Gehirnbiochemie dieses Menschen
kümmern. Und man muss sich natürlich auch um die Probleme dieses Menschen
kümmern. Wenn man sich um beides kümmert, dann hat man in der Tat gute Karten,
dass es wieder besser wird. Und man kann in der Tat mit diesen bildgebenden
Verfahren heute schon bei bestimmten Krankheiten herausfinden, dass bestimmte
Gehirnteile entweder zu viel oder zu wenig arbeiten. Man kann also diese
Verfahren dazu benutzen, um die Diagnostik klarer hinzubekommen und auch,
um sich Therapieeffekte anzusehen. Das geht heute also bereits. | Norten: | Sie
sind ja selbst auch Psychiater. Es hat ja eine Zeit gegeben, in der man in
solchen Fällen recht schnell mit der "Chemie" gearbeitet hat. Danach kam
eine Zeit, in der die "Chemie" völlig out war und es stattdessen geheißen
hat, alles wäre nur ein psychisches Problem, das man ausschließlich mit Psychotherapien
in den Griff bekäme, bei denen man auf keinen Fall irgendwelche Medikamente
nehmen dürfe. Heute liegt dieser Weg wohl in der Mitte. | Spitzer: | Zu
sagen, der Weg liege in der Mitte, ist in gewisser Weise sogar falsch. Der
Weg besteht einfach darin, dass man die verschiedenen Therapieverfahren,
von denen man weiß, dass sie wirken, integriert. Ein schönes Beispiel dafür
ist Folgendes. Man hat nämlich bereits vor zehn Jahren im Zusammenhang mit
Zwangsstörungen etwas Interessantes herausgefunden. Man kann solche Zwangsstörungen
mit Medikamenten behandeln und man kann sie mit Psychotherapie behandeln.
| Norten: | Eine Zwangsstörung wäre z. B., wenn ich mir ständig die Hände waschen müsste. | Spitzer: | Ja,
wenn man sich z. B. jeden Tag sechs Stunden lang die Hände waschen muss oder
wenn man meinetwegen zehn Mal zurück in die Küche gehen muss, um nachzusehen,
ob die Kaffeemaschine ausgeschaltet ist. Solche Störungen gibt es ja leider
in der Tat. So etwas kann so starke Züge annehmen, dass einem dann an der
ganzen Hand langsam die Haut abgeht oder dass man zu nichts anderem mehr
kommt, als nur noch dazu, die Steckdosen im Haus zu kontrollieren. Wenn eine
solche Störung vorliegt, dann findet man an bestimmten Gehirnstrukturen eine
Überfunktion: Die arbeiten zu viel, die sind immer überaktiv. Wenn nun diese
Zwangskrankheit erfolgreich behandelt ist, normalisiert sich das wieder.
Vor zehn Jahren hat man dann mit diesen Bildgebungsverfahren zeigen können,
dass es egal ist, ob man das medikamentös, also mit "Chemie" behandelt hat
oder mit Reden, mit Psychotherapie. Wenn man es schafft, diese Störung abzustellen,
passiert im Gehirn immer das Gleiche – egal welche Methode man verwendet
hat. In den letzten zehn Jahren ist ja auf diesem Gebiet schon noch weiteres
passiert. Die Behandlungschancen liegen bei jeweils einer dieser beiden Therapieformen
bei ungefähr 60, 65 Prozent. Wenn man diese beiden Therapieformen jedoch
kombiniert, dann steigen die Chancen auf 85 Prozent. Deswegen liegt hier
die Wahrheit nicht in der Mitte, sondern darin, dass man die verschiedenen
Verfahren, die man heute hat und die nachgewiesenermaßen wirksam sind, optimal
miteinander kombiniert. | Norten: | Wenn
ein Mensch z. B. sehr niedergeschlagen ist, wie kann, wie soll er dann reagieren?
Es ist ja oft leider so, dass ihm lediglich gesagt wird: "Jetzt reiß dich
endlich mal zusammen! Das geht schon wieder. Kopf hoch..." Manchmal reicht
das vielleicht auch, aber in vielen Fällen reicht das eben leider nicht mehr,
sodass eine Behandlung notwendig wird. Bei Ihnen in der Klinik in Ulm sind
ja auch solche Patienten. Wann soll man sich also dazu entscheiden, professionelle
Hilfe in Anspruch zu nehmen? | Spitzer: | Wenn
das länger andauert und wenn das nicht mehr auszuhalten ist. Es kommt immer
wieder mal vor, dass man sich nicht so gut fühlt. Und wenn dann meinetwegen
der Partner oder die Partnerin sagt, "Komm, es wird schon wieder", dann geht
es auch meistens wieder. Das ist ganz normal: Das ist sozusagen das gesunde
affektive Schwanken, das wir alle haben, denn wir sind ja alle nicht jeden
Tag gleich "drauf". Aber es gibt eben auch noch eine viel größere Variabilität,
sodass das Gefühlsleben wirklich viel, viel größere Ausschläge nach oben
und unten zeigt. Häufiger ist leider der Fall, dass es nach unten geht. Wenn
man mal richtig tief drinhängt, dann grübelt man und grübelt und grübelt
und merkt gar nicht mehr, dass man eigentlich krank ist. Dazu braucht es
immer erst eine andere Person. Oft ist es die Umgebung, die sagt: "Mensch,
mit der Mutter, mit dem Vater, mit dem Bruder stimmt doch irgendetwas nicht."
Wir Menschen haben etwas, das zwar kein Konstruktionsfehler ist, das aber
unter diesen Bedingungen leicht zu einem Konstruktionsfehler werden kann:
Uns fallen nämlich immer Geschichten ein. Wir "wissen" also immer, warum
wir uns schlecht fühlen. Auch dann, wenn ein Mensch einen Hirntumor hat,
"weiß" er, dass es ihm nur deshalb schlecht geht, weil der Chef böse zu ihm
gewesen ist, weil man Ärger mit der Frau oder dem Mann gehabt hat usw. Das
heißt, wir haben leider immer eine Geschichte parat. Die Aufgabe des Profis,
des Psychiaters oder des Nervenarztes, besteht genau in Folgendem: Er muss
diese Geschichten natürlich zur Kenntnis nehmen, denn dort liegen ja oft
auch wirkliche Probleme. Aber er muss eben auch hinter die jeweiligen Geschichten
schauen und sich sagen: "Diese Person kommt also morgens nicht aus dem Bett.
Sie hat dauernd das Gefühl, einen riesengroßen Berg vor sich zu haben, wenn
sie aufwacht. Sie muss dauernd das Gleiche denken, sie hat Rückenschmerzen
und schläft schlecht. Sie fühlt sich immer matt." Wenn man das alles zusammenzählt,
dann stellt man eben eine Reihe von depressiven Symptomen fest. Der Profi
weiß dann genau, wie er die anderen Symptome erfragen kann, denn es gibt
hier schon auch noch ein paar andere. Wenn der Profi das also erkannt hat,
dann muss er herausfinden, ob bei dieser betreffenden Person vielleicht eine
Schilddrüsenunterfunktion oder ein Hirntumor vorliegt. Oder ist dieser Patient
vor langer Zeit mal von einer Zecke gebissen worden, ohne es zu merken und
es liegt sogar eine Entzündung des Gehirns vor? Das kann ja alles sein. Das
bekommt man aber auch heraus und deswegen geht man zum Psychiater: Dort macht
man ein paar Tests und findet das heraus. Danach kann man dann die optimale
Behandlung wählen. Sie besteht, wenn es sich tatsächlich um eine Depression
handelt, eben in beidem: nämlich in einer Gesprächstherapie und in einer
medikamentösen Therapie. | Norten: | Ich
hatte noch die Schizophrenie angesprochen. Früher hieß es hierbei ja auch,
da würden psychische Störungen vorliegen. Heute wissen die Ärzte darüber
aber sehr viel mehr. Sie selbst behandeln ebenfalls solche Patienten. Ist
auch hier heute die Kombination angesagt? | Spitzer: | Bei
der Schizophrenie ist es noch klarer als bei der Depression – obwohl es bei
der Depression schon auch klar ist. Die Schizophrenie ist jedenfalls ganz
eindeutig eine Gehirnkrankheit. Es gibt wirklich keine schizophrenogene Mutter,
die sozusagen ihrem Kind die Schizophrenie irgendwie beibrächte, wie man
das früher meinte. Das war eine wirklich ganz furchtbare Konstruktion, denn
die Mütter haben früher ihre Kinder ins psychiatrische Krankenhaus gebracht,
wo ihnen dann auch noch gesagt wurde, sie selbst wären daran schuld. Das
stimmt aber überhaupt nicht, wie wir heute wissen. Insofern versetzt uns
das Wissen über diese Krankheit heute in die Lage, diese Patienten besser
zu behandeln. Wir können die Schizophrenie nicht heilen, aber wir können
auch eine Zuckerkrankheit nicht heilen. Wir können jedoch dafür sorgen, dass
ein Zuckerkranker fast normal leben kann. Und ein Schizophrener, der richtig
behandelt wird, kann ebenfalls fast normal leben. Wir hatten bei uns schon
Patienten auf diesem Gebiet, die sogar ihr Medizinexamen machen konnten.
Sie konnten in der Klinik arbeiten, obwohl sie diese Diagnose hatten. Vor
zehn Jahren wäre so etwas noch undenkbar gewesen. Heute ist das durchaus
möglich bzw. im Bereich des Möglichen, wenn das richtig gut behandelt wird.
| Norten: | Sie beschäftigen
sich ja mit sehr, sehr vielen Aspekten des Gehirns und werden daher gerne
der "Tausendfüßler unter den Wissenschaftlern" genannt. Sie beschäftigen
sich sogar mit dem Zusammenhang von Autofahren und Gehirn, also damit, was
sich beim Autofahren im Gehirn abspielt. Was haben Sie herausbekommen? | Spitzer: | Das
war und ist immer noch für uns eine ganz wichtige und sehr spannende Kooperation.
Wir untersuchen in der Tat das Gehirn beim Autofahren. Wenn Sie sich mal
ein heutiges Auto ansehen, dann müssen Sie feststellen, dass das ein unglaublich
hoch entwickeltes Gerät geworden ist. Das Schlechteste an einem guten Mittelklassewagen
ist heute mit Abstand der Fahrer! Heute muss man daher das Interface, also
die Verbindung zwischen Auto und Fahrer, verbessern. Dazu braucht es aber
nicht nur Fragebögen und subjektive Meinungen, sondern – und das kann man
eben heute machen – man kann dem Gehirn des Fahrers beim Autofahren richtiggehend
zusehen. Dadurch lernt man als Wissenschaftler jede Menge übers Autofahren.
Dies wiederum führt langfristig dazu, dass man bessere Autos baut. | Norten: | Wie sehen diese Autos aus? | Spitzer: | Sie
sind z. T. menschengerechter im Hinblick auf den Informationsfluss zwischen
Fahrer und Auto. Die Informationsflut in einem Auto ist ja heute riesengroß.
Man hat ein Display vor sich, man hat hier einen Schalter und dort eine Anzeige
usw. Die Autos der Zukunft werden u. a. so aussehen, dass sie selbst die
wichtigen Informationen auswählen und sie diese Informationen dann dem Fahrer
automatisch auf eine Weise mitteilen, dass er nicht abgelenkt wird, sie aber
trotzdem zur Kenntnis nimmt. Auf diesem Gebiet haben wir mittlerweile mit
Daimler-Chrysler zusammen sogar Patente entwickelt. Sprich, wir machen einfach
eine gemeinsame Forschung. Das ist für uns sehr interessant und es ist eben
auch für die Industrie sehr interessant, mit neurowissenschaftlichen Methoden
die Autos tatsächlich noch weiter zu optimieren. | Norten: | Das
zeigt, Ihr Forschungsbereich geht wirklich in unheimlich viele Gebiete des
Alltags hinein. Was wünschen Sie sich denn für die Gehirnforschung in Zukunft?
| Spitzer: | Ich wünsche
mir, dass sie noch besser verankert ist im Bewusstsein der Menschen. Wir
wissen zwar noch wenig über unser Gehirn, aber wenn wir das, was wir heute
wissen, zum Wohle von uns allen in den Schulen, in den Krankenhäusern, in
den Autos usw. einsetzen würden, dann hätten wir bereits einen ganz großen
Nutzen von der Hirnforschung. Deswegen sitze ich ja auch hier, weil ich gerne
die paar Ergebnisse, die wir heute schon haben, verbreite. Denn ich glaube,
dass wir von der Gehirnforschung in naher Zukunft extrem werden profitieren
können. | Norten: | Wer sollte Ihnen besonders zuhören? | Spitzer: | Alle Menschen. | Norten: | Das
war hier im Alpha-Forum unser heutiger Studiogast Professor Manfred Spitzer.
Ich bedanke mich für Ihr Hiersein und Ihnen, liebe Zuschauer, für Ihr Interesse.
Ich wünsche Ihnen noch einen sehr schönen Tag. |
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